EUmigra-Themenforum: Lange Diskriminierungstradition wirkt bis in den heutigen Arbeitsmarkt hinein
„Wie viel Diskriminierung, wie viel Rassismus steckt in diesem System, ohne das die deutsche Landwirtschaft und der deutsche Pflegesektor nicht funktionieren könnten? Und warum wird dieses Thema so selten problematisiert?“ So lauteten zwei der Leitfragen bei der heutigen Online-Diskussionsrunde im EUmigra-Themenforum der Auslandsgesellschaft mit den Referenten Prof. Jannis Panagiotidis (Universität Wien) und Dr. Hans-Christian Petersen (Uni Oldenburg). Die beiden ausgewiesenen Migrationsforscher sind die Autoren der jüngst erschienenen Publikation „Antiosteuropäischer Rassismus in Deutschland. Geschichte und Gegenwart“ (Beltz-Verlag 2024). Auf Einladung von EUmigra referierten sie markante historische Stationen und Ergebnisse ihres 200 Seiten starken Forschungsbeitrags, der in 11 Kapiteln einen Bogen schlägt von der Neuzeit bis zur Gegenwart.
Zwei zentrale Befunde, die auch in der anschließenden Diskussion mit dem 24-köpfigen Publikum eine Rolle spielten, lauten: (1) Es gibt eine historisch lange und bis heute wirksame Traditionslinie von Negativ-Stereotypen und Ausgrenzungsmustern, die in Deutschland Rassismus gegenüber Menschen aus dem östlichen Europa beförderte und befördert. (2): Der Rassismus-Begriff greift zu kurz, wenn man ihn phänotypisch etwa auf die Hautfarbe beschränkt, denn er nimmt gerade als Alltagsrassismus viele versteckte Formen an. Dabei ist Rassismus historisch wie situativ jeweils kontextuell gebunden: Von der Angst vor dem Fremden bis zum Interesse an vermeintlich „billigen Arbeitskräfte aus dem Osten“ – mit der bekannten Folge prekärer Beschäftigungsverhältnisse zwischen Baugewerbe, Logistikbranche und Prostitution.
„Die Diskriminierung von Menschen osteuropäischer Herkunft ist erst jetzt zum politischen Thema geworden, aber es ist erfreulich, dass sich da jetzt etwas bewegt .“ Das Fazit der Referenten in der heutigen Veranstaltung ermutigt und ist Auftrag zugleich, die Sensibilisierungsarbeit für Diskriminierungsphänomene konsequent fortzusetzen. Das bedeutet, fortan auch diejenige Zuwanderungsgruppe stärker zu berücksichtigen, die im Rahmen von EU-Zuwanderung und EU-Osterweiterung das Wirtschaftsleben in Deutschland und Sachsen-Anhalt maßgeblich mit am Laufen hält.
Erste Anzeichen für eine neue Wahrnehmung des Themas sind bereits vorhanden: In ihrem "Lagebericht Rassismus in Deutschland“ hatte Staatsministerin und Antirassismus-Beauftragte Reem Alabali-Radovan Anfang 2023 die „besondere Bedeutung“ des antislawischen Rassismus schon betont, dessen Erforschung aber noch als „vorläufige Leerstelle“ bezeichnet. Mit der neuen Publikation und ausgreifenden Diskussion über Abwertungen und Ausgrenzungen von Osteuropäern deutet sich nun erstmals eine Zäsur an in Richtung eines erweiterten Rassismus-Begriffs – im Sinn der Gleichbehandlung aller diskriminierten Menschen und Gruppen. Dazu zählt nicht zuletzt, dass das jetzt abgeschlossene Projekt "Diskriminierung von Menschen osteuropäischer Herkunft auf dem Arbeitsmarkt“ (Abschlusstagung: 26./27.09.24), an dem auch die Buchautoren mitwirkten, von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes finanziert wurde.
An den neuesten, vielfach überraschenden Forschungsergebnissen, auch das wurde im heutigen EUmigra-Themenforum deutlich, kommt die Antirassismus-Debatte künftig nicht mehr vorbei. Wie von den Autoren abschließend betont: Es geht nicht um Opfer-Konkurrenz, es geht um eine erweiterte Offenheit für Ausgrenzungs- und Benachteiligungsmuster. Laufende und künftige Antidiskriminierungsaktivitäten sollten, so Petersen, an einem um die osteuropäische Dimension erweiterten Verständnis von Diskriminierung und Rassismus anknüpfen. Das betrifft die Tätigkeit der Antidiskriminierungsstellen ebenso wie die Sensibilisierungsarbeit von Strukturen und Projekten, die zu diesem Themenfeld mehr Wissen, Schulungen und Bildungsmaßnahmen anbieten sollten.